Die meisten Deutschen möchten zu Hause sterben, tatsächlich sind es knapp 40%. Zunehmende Individualisierung (>50% Singlehaushalte in Stuttgart), Ausdünnung familiärer Netzwerke, demographische Entwicklung und zunehmende Lebenserwartung lassen keine Umkehrung des Trends erwarten, sondern vergrößern die Frage nur: Wie gelingt es, dass Menschen das Ende ihres Lebens dort verbringen können, wo sie sich geborgen fühlen? Pflegekräftemangel und Kostensteigerungen im Gesundheitswesen verschärfen die Situation. Und neben Zahlen gibt es auch qualitative Entwicklungsbedarfe – in einer Befragung des Deutschen Hospiz- und Palliativverband 2016 schätzten nur 49% der Befragten die Schmerztherapie eines nahestehenden Menschen im Krankenhaus als gut ein.
Vor diesem Hintergrund haben bis heute über 2.000 Organisationen und Institutionen sowie 26.000 Einzelpersonen – darunter auch zahlreiche Politiker*innen und Kommunen – die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland unterzeichnet. Diese Charta bündelt Leitsätze, Aufgaben, Ziele und Handlungsempfehlungen, um die Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland zu verbessern. Im Mittelpunkt steht dabei immer der Einzelne, der betroffene Mensch:
www.charta-zur-betreuung-sterbender.de
Mit der Veranstaltungsreihe „Leben bis zum Schluss” wird die Charta-Initiative Stuttgart vom 30. September 2019 bis 30. Juni 2020 die zentralen Botschaften der Charta an unterschiedliche Orte der Stadt tragen, ins Gespräch kommen, diskutieren und Unterschriften sammeln. Außerdem soll die Charta an Verantwortliche gebunden und damit in Stuttgart langfristig gefestigt/verstetigt werden. Nach der Eröffnung folgten und folgen weitere Veranstaltungen wie der Gottesdienst zum Welthospiztag, das Podiums- und Publikumsgespräch „Pflegedienst Familie – zwischen Verlässlichkeit und Verlassensein“, die Filmschau „Wir sterben“, der „Letzte Hilfe Kurs“ und vieles mehr. Weitere Infos zur Veranstaltungsreihe finden Sie auf www.leben-bis-zum-schluss.de
Auftaktveranstaltung unter der Paulinenbrücke
Für die Eröffnungsveranstaltung am 30. September 2019 mit dem Performance-Künstler Thomas Putze (www.thomasputze.com) und dem Wort-Künstler Jan Siegert (KISS Stuttgart) wurde bewusst ein öffentlicher Ort in der Stadt gewählt, um das Thema „Sterben und Tod“ in die Stadtgesellschaft zu tragen und an die „Graswurzeln“ der Hospizbewegung zu erinnern. Wo bis zum Frühjahr 2018 unter der Paulinenbrücke noch ein Parkplatz war, befindet sich nun ein Experimentierfeld für die Themen des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Die Installation und Performance basiert auf der Auseinandersetzung mit den Leitsätzen der Charta. Thomas Putze findet für die Situation und die Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen eine eindrückliche wie einfache Formensprache. Abstrakte Begriffe wie „Hülle”, „Verlass”, „abhängig” und „eingebunden sein” wurden in der Performance sinnlich erfahrbar gemacht.
Mit der Brechung und Auflösung von festgefahrenen Sprichwörtern stieß Jan Siegert die Auseinandersetzung mit den Themen Sterben und Tod neu an. Die bestmögliche Versorgung sterbender Menschen fordert Individualität, keine Gemeinplätze – aus allseits bekannten Sprichwörtern wurden irritierende „Strichwörter“.
Im Zusammenspiel mit der Performance von Thomas Putze, die den emotionalen (und vielleicht auch spirituellen) Aspekt einer solchen Lebenssituation in einer körperlichen Darbietung umsetzt, bildeten sie das Alltägliche bzw. das schlicht Notwendige ab – ganz down to earth auf dem Asphalt unter der Paulinenbrücke. Dazwischen standen die fünf Kernaussagen der Charta als Absichtserklärungen der professionellen Ebene als Anker im Mittelpunkt.
All das spielte sich zusammen in einer öffentlichen, geschäftigen Umgebung mitten im Stadtzentrum ab. Die Welt dreht sich weiter. Das Leben geht nicht weiter. Und doch weiter, bis zum Schluss.
Charta unterzeichnen
Die Charta-Initiative Stuttgart wurde ins Leben gerufen durch Engagierte von Brückenschwestern Stuttgart, Diakonie-Klinikum Stuttgart, Hospiz St. Martin, Hospiz Stuttgart, Klinikum Stuttgart, Palliative-Care Team Stuttgart, Parkheim Berg und Robert-Bosch-Krankenhaus mit seinem Standort Klinik Schillerhöhe.
Auch KISS Stuttgart gehört zu den Institutionen, die die Charta unterzeichnet haben. Die Selbsthilfekontaktstelle beteiligte sich mit der Vorführung des Films „Nokan – Die Kunst des Ausklangs“ an der Veranstaltungsreihe. Falls Sie als Privatperson oder Einrichtung die Charta ebenfalls unterzeichnen möchten und/oder eine Veranstaltung zum Thema beitragen möchten, wenden Sie sich bitte an die unten stehende Koordinierungsstelle.
Infos und Kontakt
Koordination Palliativ-Netz Stuttgart
c/o Bürgerstiftung Stuttgart
Katja Simon
katja.simon@buergerstiftung-stuttgart.de
Dr. Katrin Gebicke
hannakatrin.gebicke@buergerstiftung-stuttgart.de
www.leben-bis-zum-schluss.de
Leitsätze der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland in vereinfachter Sprache
1. Gesellschaftspolitische Herausforderungen – Ethik, Recht und öffentliche Kommunikation
- Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter Bedingungen, die seine/ihre Würde achten.
- Die persönlichen Wünsche und Werte werden respektiert. Der Wille wird geachtet.
- Er/sie wird unterstützt durch die Familie, durch nahe stehende Personen und durch beruflich und ehrenamtlich Sorgende.
- Ein Sterben in Würde wird unterstützt durch entsprechende politische Rahmenbedingungen.
- Wir werden uns dafür einsetzen, dass Menschen an der Hand und nicht durch die Hand eines Menschen sterben.
- Sterben ist Teil des Lebens. Die Themen Sterben und Tod dürfen nicht tabuisiert werden.
2. Bedürfnisse der Betroffenen – Anforderungen an die Versorgungsstrukturen
- Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht darauf, dass seine persönlichen Bedürfnisse wahrgenommen werden.
- Die Begleitung und Beratung ist darauf individuell ausgerichtet.
- Die Angehörigen und Nahestehenden werden einbezogen und unterstützt.
- Die Begleitung erfolgt durch haupt- und ehrenamtlich Tätige.
- Die vorhandenen Versorgungsstrukturen in Stuttgart sind für die Betroffenen zugänglich.
- Ein kontinuierliches Versorgungsnetzwerk ist unser Ziel.
3. Anforderungen an die Aus-, Weiter- und Fortbildung
- Jeder Mensch hat ein Recht auf Begleitung und Behandlung durch unterschiedliche Berufsgruppen, die entsprechend qualifiziert sind.
- Die in der Palliativversorgung Tätigen verfügen über aktuelles Fachwissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten.
- Ihr Handeln ist eingebettet in eine Haltung der Achtsamkeit im Umgang mit schwerstkranken und sterbenden Menschen.
- Wir werden uns dafür einsetzen, dass entsprechende Lernangebote in die Aus-, Weiter- und Fortbildungscurricula integriert werden.
4. Entwicklungsperspektiven und Forschung
- Jeder Mensch hat ein Recht darauf, nach dem allgemein anerkannten Stand der Forschung begleitet und behandelt zu werden.
- Entsprechende Forschungsbedarfe müssen identifiziert werden. Forschungsstrukturen müssen weiterentwickelt werden. Forschungsvorhaben und innovative Praxisprojekte müssen gefördert werden.
- Wir werden uns dafür einsetzen, dass ständig neue Erkenntnisse zur Palliativversorgung aus Forschung und Praxis gewonnen, transparent gemacht und im Versorgungsalltag umgesetzt werden.
5. Die europäische und internationale Dimension
- Jeder Mensch hat ein Recht darauf, nach anerkannten Empfehlungen und Handlungsrichtlinien begleitet und behandelt zu werden.
- Wir werden uns dafür einsetzen, Organisationen, Institutionen und Menschen, die international im Bereich der Palliativversorgung tätig sind, in Kontakt miteinander zu bringen für einen länderübergreifenden Austausch zum Wohl schwerstkranker und sterbender Menschen.
>>> mehr zur Auftaktveranstaltung:
Bildergallerie
„Strichwörter“ ersetzen „Sprichwörter“
Sprichwörter sind verallgemeinerte, auf einen Satz konzentrierte Lebensweisheiten. In Konfrontation mit dem bevorstehenden Lebensende verlieren sie ihre Relevanz, so wie alle abstrakten und konkreten Behelfsmechaniken einer zukunftsorientierten Lebensplanung. In der künstlerischen Umsetzung werden sie deshalb abgebrochen/manipuliert und ihrer lehrbildhaften Aussagen beraubt, indem die zu erwarteten Textfortgänge ausgetauscht werden durch sachliche, mitunter banale Beobachtungen aus der Lebenswirklichkeit eines sterbenden Menschen bzw. dessen Angehörigen heraus.
- Wer anderen eine Grube gräbt
fällt selbst hineinverlangt dafür zwischen 2.000 Euro für die günstigste anonyme Feuerbestattung (Einäscherung) und 35.000 Euro (und mehr) für eine gehobene Erdbestattung. - Lügen haben
kurze Beinesich nicht vermeiden lassen, damit ich noch ein paar Tage länger die Normalität aufrechterhalten konnte. - Es ist noch kein
MeisterCase Manager für Palliativbegleitung vom Himmel gefallen. - Reden
ist Silberfällt schwer, Schweigen istGoldnormal. - Bald
Nochist nicht aller Tage Abend. - Je später der Abend, desto schöner die
GästeVorstellung, dass es vielleicht doch ein Leben nach diesem Leben gibt, oder einen Gott, einen Sinn. - Aller
AnfangEnde ist schwer. - Wer zuerst kommt,
mahlt zuerstbleibt bis zum Schluss. - Französisches Sprichwort:
Wer von weit her kommt,kann schön lügensollte von unseren Erfahrungen profitieren und sein Wissen mit uns teilen. - Türkisches Sprichwort:
Lieber einenintelligenten Feindanwesenden Laien als einendummen Freundabwesenden Profi. - Arabisches Sprichwort:
Wirf keine Steinein den Brunnenvor die Tür,aus dem du trinkstdurch die wir gehen müssen.