Nikita Gorbunov ist Autor, Bühnenpoet, Musiker, Theatermacher – und wie wir alle gerade viel zu Hause. Er lebt im Herzen Stuttgarts, in Laufweite zur KISS, und engagiert sich seit Jahren in der selbstorganisierten Initiative ausdrucksreich e. V., einem Stuttgarter Verein zur Sprach- und Sprechkompetenzförderung.
Jeden Dienstag schreibt er hier einen Text über seine Sicht auf das Leben im Ausnahmezustand und über das Miteinander in Zeiten des social distancing.
Normale Gefühle
28.04.2020
Pünktlich zum Beginn der Tragepflicht lag die neue Mund-Nase-Bedeckung im Briefkasten. Die zweite Person hat ihre Beziehungen spielen lassen und zwei handgenähte Masken von ihrer Stamm-Kostümbildnerin beschafft. Sie sind schwarz, sie sind heiß und sie rocken mein Gesicht mit einer Applikation baumelnder Quasten. Was für ein Glück, dass meine Isolationsgenossin damals Theater gemacht hat. Die alten Netzwerke verschaffen ihr in der künstlerischen Leere nun den kunstvollen Mundschutz. Dass ich mich damals – vor 6 ½ Wochen – mit einem Krämerladen selbstgestrickter Textarbeiten über Wasser hielt, verschafft mir heute höchstens einen Vorsprung an Körpermasse von der ungesunden Arbeitshaltung in Denkerpose. Heute bleibt mir nur ein letztes Hemd; alles andere, ob Shirt oder Pulli, spannt sich schon längst über den Isolationsbauch, hämisch und faltenlos. Auch diese handgenähte Quasten-Maske ist vor lauter Gesicht heillos überfordert.
Die Bündchen krallen sich in meine Öhrchen und ziehen sie nach außen-unten… Guck mal, wie übelst ab sie stehen! Ich fühle mich wie ein Albatros. Die „Flügel“ im Gesicht sagen, dass ich segeln soll, doch in Anbetracht meiner Ausmaße gerät jeder Start zum wundersamen Naturschauspiel. Sie sehen, ich teile mit Ihnen einen wichtigen ersten Taps-Schritt aus meinem Quarantäne-Nest. Zum ersten Mal seit 6 ½ Wochen fühle ich heute wieder Eitelkeit. Endlich wieder ein ganz normales Gefühl, oder?
Nun, die Welt stellt sich immer nur dann dar, wie sie wirklich ist, wenn Menschen mit der Welt und miteinander in aller Öffentlichkeit interagieren. Der Versuch, das eigene Leben zu begreifen, hat immer etwas ausgesprochen Schauspielerisches. Einen richtiggehenden Naturzustand kennt der Mensch eigentlich gar nicht, alles ist Kultur und Kultur ist immer „das, was auch anders geht“. Denken Sie nicht nur an Denkerposen und Kostümbildnerinnen, wenn ich jetzt „Kultur“ sage. Denken Sie nicht nur an Bäuche, wenn Sie darüber nachdenken, was auch „anders geht“. Denken Sie an „Klopapier“, an den „8-Stunden Tag“, aber auch an den „8-Stunden Schlaf“, denken Sie an alles, was Sie so selbstverständlich tun, dass Sie es für angeboren halten. Denken Sie an „Männer sind Jäger und Frauen sind Sammler“, diese Idee zum Beispiel kam nie aus der Altertumsforschung, sondern aus dem Krämerladen der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts. Unsere Normalität ist bestenfalls eine fiktionale, gemeinsame Performance auf der Grundlage echter Tatsachen, ein Mix von Originalaufnahmen und nachgestellten Szenen. Und meine Normalität, wie ich sie damals kannte, ist seit 6 ½ Wochen Geschichte. Ich fürchte also, wenn Sie sagen, Sie wollen „endlich zur Normalität zurückkehren“, meinen Sie damit zwangsläufig: „Back to the future.“ Was wollen wir dort?
Möchte ich wirklich eins-zu-eins in eine Zeit zurück, in der ich eine neurotische Unsicherheit über meinen eigenen Körper mitspielen musste – ist doch normal!? Werden wir wirklich die Masken wieder ablegen? Ich und meine Maske, die so fly ist, dass sie meinem Face Flügelchen verleiht! Und was ist das Gesicht einer Gesellschaft, die mit Masken mehr Erfolge erlebt als Sido? Was macht das mit Ihnen, dass Sie 6 ½ Wochen lang von so wenigen umarmt wurden? Mich macht das wohl sichtbar kuschelig.
Nicht, um Sie wie früher aus heimlicher Konfliktlust mit Unterstellungen beschämen zu wollen, sondern aus ehrlicher Neugier: Können Sie eine Normalität, in der sich Menschen von der Allgemeinheit erniedrigen lassen müssen, um eine Mindestwürde zu behalten; eine Normalität, in der Einsamkeit unsichtbar bleibt; eine Normalität, in der auf so viel Bruttoinlandsprodukt so wenige Kuschels kommen, jemals wieder „natürlich“ finden? Mit den Erfahrungen der letzten Wochen? Ich will vieles zurück, aber vieles auch nicht! Ich will nur noch Meetings haben, um mit den andern zusammen zu sein. Für die Darstellung von Leistungseifer aus Eitelkeit genügen mir Videokonferenzen in der Tat völlig. Und ich werde es wohl nie wieder normal finden, ständig so viel Zeug zu kaufen. Dabei dachte ich, der ständige Konsum wäre mir kulturell angeboren und jetzt habe ich das denkwürdig anders erlebt.
Unser Gesellschafts-Spiel ging in die Pause, als alle Mitspieler*innen in den Shutdown abgetreten sind. Wenn uns der Gong wieder rein ruft – oder besser gesagt wieder raus – beginnt ein neuer Akt mit neuen Handlungen. Sie als altes Kulturwesen wissen ja: So eine Performance bleibt eine Interaktion zwischen Menschen. Sie ist gerade darum besonders und wertvoll, weil man sie nicht wiederholen kann.
Ich will jedenfalls weniger Drama und mehr Umarmungen – für die Dicken, für die Eitlen, für die Albatrosse und die mit den Segelohren. Darüber könnten wir gemeinsam weiterspielen, wenn wir wieder zu aller Öffentlichkeit geworden, möglichst wohlbehalten und möglichst alle wieder zurück sind. Back on stage … Back to the future. Was wollen Sie?
Buddha Corona.
21.04.2020
Ja, ich hatte auch so eine Phase, in der ich nur noch auf Spiegel- oder Zeit-Online hing, wo es mich sofort langweilte. Und dann wechselt ich in irgendein soziales Medium, wo die Leute doch auch nicht anders konnten, als aggressiv um sich zu teilen. Dann natürlich wieder Netflix. Aber, seit ich dort dieses mehrteilige Drama fand, über einen schwulen, polygamen Waffennarren, der Großkatzen sammelt und aktuell einsitzt für einen angeblichen Auftragsmordversuch an einer Tierrechtsaktivistin, die wahrscheinlich ihren reichen Exmann an die Tiger verfüttert hat … mehr Netflix als das wird’s auch nicht mehr.
Irgendwann saß ich dann als Bildschirmgott zwischen all diesen high definition Gefühlsprothesen und konnte nicht mehr sagen: Warum existiere ich eigentlich? Ich kann mir gut vorstellen, dass auch Sie in diesem Shutdown zu einer irrelevanten Zeit an einem ähnlichen inneren Ereignishorizont angelangt waren. Und dann ebenso staunend feststellen mussten: Dahinter geht die Welt ja weiter.
Ich dachte mal, ich würde nicht
aufhören, auf die Gesamtzahl der gesicherten Covid-19-Fälle zu starren, als
gäbe es da Meilensteine am Kurvenrand. Ich dachte, ich würde sicherlich meinen
Freund*innen und Kolleg*innen ins Netz folgen, weil sie da jetzt Kultur machen.
Ich dachte, ich würde total darauf achten, dass die Tochter sich ihren
Heimlern-Stoff lückenlos reinzieht. Ich dachte, ich hätte für alles mehr Zeit.
Aber ich war wie eine unwissende Raupe. Ich musste mich erst in diesen Kokon
aus vorgenommenen Büchern, selbst geölten Tischplatten und Back-Hybris
einspinnen, um zu dem Schmetterling zu reifen, der Ihnen heute diese Zeilen
entgegenflattert:
Ich sah die Hefe verschwinden, doch sie wurde als surrealer
100-Gramm-Aufschnitt wiedergeboren. Ich hörte irgendwelchen Stars beim Singen
zu, aber wundere mich heute über die ganze Idee von „Prominenz“. Ich lauschte
dem Drosten bis zum Rosten und ich kam davon los. Ich bin jetzt Buddha-Corona,
mein Wahnsinn verdoppelt sich nur noch alle 21 Tage.
Ich habe meinen Frieden damit gemacht, dass ich mir das ganze Möbelöl und die Hefezöpfe in meine Exfrisur hätte schmieren sollen. Ein Video hätte ich stattdessen aufnehmen sollen, in dem ich eine Stunde lang angestrengtes Zuhören spiele, den Blick seltsam gesenkt, immer wieder behaupte, das Internet sei schlecht, ob man mich überhaupt verstehen könne, weil ich so gar nichts verstehen würde, und wenn, dann nur abgehackt. Die ganzen Zoom-Konferenzen, in denen ich quasi im Livestream systematisch einen auf relevant gemacht hab, warum existierte das eigentlich? So ein Video von mir, bei dem ich schlechte Verbindung spiele, hätte es doch auch getan … Stop!
Einatmen. Ausatmen. Lassen Sie Ihren Ärger ziehen und folgen Sie mir in einen neuen Bewusstseinszustand. Ein Politiker hat eine Meinung? Egal. Markus Söder hat eine andere Meinung? Egal. Alles, was ihnen bedeutsam schien, ändert nun seine Bedeutung.
Zum Beispiel Zoom. Wir dachten, das sei ein Tool für virtuelle Arbeitsbesprechungen. Dabei ist es eine Art Spielautomat, der zufällige Kombinationen allein trinkender Menschen ausspielt, die sogenannten „Zäufer“, die sich auf Zoom zum „Zaufen“ verabreden. Oder „Corona-Bonds“, sie hielten das für eine wirtschaftspolitische Solidaritätsidee für Europa? Nein, junger Schüler. Als „Corona-Bond“ bezeichnet man die unausgesprochene, gegenseitige Angst vor kuschelloser Langeweile, die manche untergärige Beziehung durch die soziale Distanz trägt. Wenn wir einen Toilettengang heucheln, so lang, als wären wir ein Tiger, der gerade einen Exmann zu verdauen hatte, bloß damit wir ein bisschen heimliche Alleinzeit haben, dann nennen wir das ab jetzt „freiwillige Isolation“. Und eine Person, die ihren Nase-Mund-Schutz auf die Krawatte, die Schuhe oder die Tasche abstimmt, nennen wir „Gesichterfest“.
Nur einer ändert sich nicht, egal was wir füreinander bedeuten. Der „Denunziant“ bleibt immer ein nur ein Denunziant. Und alle fragen sich – ich frage mich, der polygame Waffennarr aus dem Netflix-Drama „Tiger King“ fragt es sich, die singenden Stars fragen sich und der Söder und der Drosten fragen es sich auch: Sag mal, Denunziant. Warum existierst Du eigentlich? So unerträglich unverändert.
Giant Leap for Mankind, Major Tom
14.04.2020
Starren Sie auch auf Ihren Bildschirm und warten auf ein Signal? Echte Astronauten werden total nach ihrer seelischen Belastbarkeit ausgesucht und mental geschult, bevor man sie so einer Isolation übergibt. Astronauten steigen immer schon nur als ganzer Haushalt in ihre Kapseln. Hinter ihnen brennt die alte Realität donnernd davon, vor ihnen spannt sich das Ungewisse. Und alles im Grunde nur, um zu sehen, ob man das so machen kann.
Also gemessen an der legendären Selbstgenügsamkeit von Raumfahrer*innen machen Sie sich großartig! Nur 4 Wochen gemeinsam angeschnallt auf dem Gleitflug durch den Nebel Covid-19 und wir sind schon Profis, oder? Ich kann jetzt erstaunliche Wartungsarbeiten an meinem Wohnmodul vornehmen (Holz ölen und anschließend lüften. Viel.). Ich kann selbst nach Phasen der Herausforderungsarmut komplizierte Manöver durchführen (Masken-Nähen nach Tutorial). Und ich kann Anordnungen ausführen und verlasse mich dabei auf die Anweisungen von oben. Gut, in der Raumfahrt kommen Anweisungen von Oben immer von unten, wobei es dort oben weder Oben noch Unten gibt. Diese Schwerelosigkeit bringt mich durcheinander.
Jedenfalls das Wunder der bemannten
Raumfahrt beweist: Wer ohne die geringste Systemrelevanz zuverlässig Kommandos
ausführen kann, die er selbst nicht verstehen muss, ist ein absoluter Held.
Solange ihm nur Fachleute sagen: „Wir haben durchgerechnet, ob man das so
machen kann und wir glauben im Grunde: ja.“
Jede*r von uns sitzt auf dieser Reise am Steuerknüppel und wenn dort niemand
das tut, was er denkt, sondern nur das, was uns klügere Leute sagen, kann das
einen Riesenschritt für die ganze Menschheit bedeuten. Mit ein bisschen
heldenhafter Faktenhörigkeit von uns allen, würde sogar das scheue Klopapier
die Supermärkte zurückerobern, wie es die Natur gerade mit den leeren Städten
tut.
Zum Glück war es noch nie so einfach wie heute, auf die Kompetenz der Fachleute zu hören. Welcher Captain braucht noch kalte Computerstimmen auf seiner Brücke? Wir haben sexy Drosten vom NDR-Podcast. Ich hoffe, Sie haben wie ich seinen unverschämt radiogenen Bariton im Ohr, wenn ich hier das Moral-Modul 1 andocke: Listen to the Science!
Wenn Sie sich ein bisschen mit dem Weltraum auskennen, wissen Sie doch lange, was ich erst seit kurzem fühle: Wir sind schon immer sehr, sehr isoliert auf einem kleinen Staubkorn in der Leere. Schon immer vor allem auf der Reise in die Unermesslichkeit unserer eigenen Abgründe. Auf die Wissenschaft zu hören ist vielleicht unsere einzige und beste Chance.
Wie gesagt, im Weltraum wie in der Pandemie sind „oben“ und „unten“ schwierige Kategorien. Was uns zur paradoxen Kehrseite unseres spacigen Trips führt. Genau wie eine Mission zum Mond, ist auch die Mission möglichst viele Leben vor dem Virus zu retten, ein zutiefst undemokratischer und möglichst ereignisloser Vorgang. Dagegen als Demokratie stoßen wir dauernd mutig in Bereiche vor, in denen noch nie ein Mensch zuvor kompetent war. Also wollen alle, alle kommandieren und dauernd fällt dabei etwas um – Parteien, Tabus und Reissäcke – manchmal in China und immer auf die Füße von irgendwem. Wer einmal die Erde verlassen musste, heißt es, weiß um den unschätzbaren Wert dieser Lebensart.
Wenn ich jetzt, für die andern zum Satelliten geworden, nur noch in sicheren Umlaufbahnen an allen vorbeiziehe, auf meinem sinnvoll vorgeplanten Orbit … in die Natur, zum Supermarkt, wieder zurück … dann vergesse ich hoffentlich nicht: Die Welt ist sehr doll bewohnt und weitgehend richtig so. Auch wenn ich eine Weile von ihr abgekapselt bin.
Den längsten Raumflug von allen hat übrigens Waleri Poljakow gemacht. Als er im Sommer ’95 nach 437 Tagen Social Distancing gelandet war, war ziemlich viel passiert. Zum Beispiel musikalisch: Kurt Cobain hatte in seiner häuslichen Isolation Nirvana aufgelöst, und während Conquest of Paradise von Vangelis die Musik-Charts dominierte, gebar eine Kanadierin Namens Patricia allen zum Trotz Justin Bieber.
Das hat Kosmonaut Poljakow alles nicht kommen gehört. Aber der Mann war ein Held. Er hat sich darauf gefreut, auf einer Welt zu landen, die längst chaotisch am Blühen war, als er noch schwerelos vor dem Bildschirm hing. Und auf Ground Control vertrauen musste, um sicher zu landen.
Baby Shower
07.04.2020
Gestern waren die zweite Person und ich bei einer Baby Shower in New York eingeladen. Ihr sehr enger Freund Valentin ist mit seiner kroatischstämmig-amerikanischen Frau nach New York gezogen und ist dort rasch von einem Valentin zu einem Val (gesprochen „Wällh“) geworden. Und nun werden die beiden auch noch Eltern. Wie schön!
Die Baby Shower, also eine kleine Feier zu Ehren der werdenden Mutter, fand natürlich virtuell als Videokonferenz statt. Und obwohl bei einer traditionellen Baby Shower eigentlich vor allem die weiblichen Freundinnen der werdenden Mutter eingeladen sind, erlauben die Umstände, dass ich an der Seite meiner zweiten Person ebenfalls Kontakt haben durfte. Es sind komplizierte Zeiten.
Videokonferenzen über Skype zum Beispiel gibt’s schon seit 2006. Doch viele von uns hielten Video-Anrufe bisher für ein verschrobenes Hobby jugendlicher Telefon-Waagrecht-Halter. Und mit „viele von uns“ meine ich mich. Jetzt führt mir also eine Kachelwand von 20 winkenden Menschen in 3 verschiedenen Zeitzonen und einem zurückwinkenden und werdenden Elternpaar in New York schlagartig vor Augen, wie groß unsere Betroffenengruppe ist. Nimm das Sars-Cov-2, Globalisierung ist unser Sport! Du hast vielleicht Tröpfchen, Du Mutant. Aber wir haben das Internet! Wir sind – Gott behüte – bis zu 7,75 Milliarden Menschen die diese Erfahrung teilen können: Menschheit gegen Corona.
An die immense Durchseuchung unseres kollektiven Bewusstseins mit der Pandemie reichen in der Tat selbst unsere virulentesten Ideen nicht heran. Weder König Fußball, noch Schuldenkrisen, noch Staubspeiende geologische Unaussprechlichkeiten, ja nicht mal Religionen haben eine so ansteckende allgegenwärtige Präsenz. Es gibt nur 2 Dinge, die an dieses einschneidende Welterlebnis einer globalen Pandemie heranreichen: Der ungezügelte Kapitalismus und der ungebremste Klimawandel. Ich lasse das hier gern einfach mal stehen für Sie. Mittendrin passt doch gut.
Wie ist nun die Lage in Berlin und anderswo? In den Kacheln unserer Baby-Shower-Zoom-Konferenz tragen 20 Menschen und Paare ihre beste Laune auf. Wir sind in Polen, in Stuttgart, in Berlin, im Süden Brasiliens, in den USA und stellen fest, dass wir alle mehr backen als zuvor. Vielleicht beruhigt es Sie, zu hören, dass es in Brooklyn genauso wenig Mehl zu kaufen gibt wie in Bad Cannstatt. Zu den Traditionen von solchen Babypartys gehört, dass man versucht, den Bauchumfang der baldigen Mama zu erraten, indem jeder ein Klopapierstück abmisst, das möglichst perfekt um die Heldin der Party passen soll. Wir sind kurz sprachlos, dann müssen wir lachen. Ein solch obszönes Zurschaustellen von mehrlagigem Reichtum können wir uns nun weltweit nicht mehr vorstellen. Schließlich verabschiedet sich die Partyrunde mit einem letzten globalen Wink und mit einer kleinen Sendeverzögerung schleicht sich ein melancholisches Gefühl ein: Ob es wohl in jeder Kachel da draußen glimpflich ausgeht?
Wie ist die Lage in New York? Für einfache Geburten wurden wohl zum Teil Geburtsstationen in Hotels eingerichtet. Immerhin. Bei dem Gedanken daran, was eine drohende Arbeitslosigkeit in den USA bedeutet, dreht sich uns der Magen um: Von heute auf morgen ohne Krankenversicherung auf der Straße stehen. Die Amerikaner sind dafür erleichtert, dass wir uns noch nicht an die Gurgel sind, auf unseren letzten paar Quadratmetern des deutschen Wohnraummangels. Wie wohl die kommenden Kinder, die dieser Tage Baby Shower feiern, mal mit unserer Welt verfahren werden? Vor allem, wenn auch sie sich in komplizierten Zeiten wiederfinden.
Ein echter „Coronial“ ist dann hoffentlich jemand, der nicht nur die globale Hilflosigkeit erlebt, sondern im Gegenteil an eine globale Selbstwirksamkeit der Menschheit anknüpfen darf. Ein echter „Coronial“ ist dann jemand, der bereit ist, gemeinsam mit allen das Nötige zu tun.
In all dem Irrsinn steckt eine erstaunliche Vernunfterfahrung: Das hier ist wahrhaftig unser einziger Planet und seine Probleme sind vielleicht lösbar, mit Einsicht und Mühe. Dann geht es hoffentlich allerorts und in allen Videokacheln möglichst glimpflich aus. Wenn wir eines Tages von Menschen regiert werden, die von zwangsbackenden Tagtrinkern im Heimunterricht beschult wurden, werden wir immerhin einen globalen Maßstab dafür haben, was uns das Leben wert ist. Es ist uns sehr viel Wert.
„Für jedes komplizierte Problem gibt’s eine naheliegende und für alle verständliche Lösung, die nicht funktioniert.“
31.03.2020
Bisher bin ich absolut nicht schlecht damit gefahren, dass sich die meisten Menschen für schlauer halten als die meisten Menschen. Wahrscheinlich funktioniert eine Gesellschaft einfach besser, wenn die Mehrheit davon überzeugt ist, zu funktionieren. Dafür nehme ich auch eine besonders arschige Kehrseite einer gesunden Gesellschaft in Kauf, den gesunden Menschenverstand. Ohne diesen fröhlichen Vitalmix von Aberglaube, Halb- und Gefühlswahrheit könnten die Leute ihrer eigenen Überforderung eben nicht so zuversichtlich … nicht ins Gesicht sehen.
Auf jedes „Ich-kann-das-grade-nicht“ kommen so 58 kalte „Kopf-hochs“. Sehr gesund. Auf jeden Menschen, der verzweifelt hofft, sein Leben möge sich diesmal den neuen Handlungen fügen, kommen 17 dreiste „Nothing changes if nothing changes“. Gesundheit.
An meinen schwachen Tagen verderben mir solche Sprüche den Appetit: „Der Applaus ist das Brot des Künstlers“. Den missgünstigen Unterton krieg ich dann einfach nicht gut runter. Denken die Leute, ich hatte bis letzten Monat okay von Bühnenarbeit gelebt, um damit ihre Weltsicht zu kränken? Ich bin, wer ich bin, ihnen zuleide?
An lichten Momenten kann ich gut die kleine Feigheit nachfühlen, die sich da in Grußkarten, markigen Schlagzeilen und inspirierenden Zitaten Bahn bricht. Das Leben selbst sprengt eben jeden Rahmen und Menschen sind so gründlich merkwürdig. Mir begegnen ständig Leute, da falle ich vom Glauben ab. Gesunder Menschenverstand hilft, sich auf eine beruhigende Version von Menschsein zu verständigen. Wer den Rahmen sprengt, triggert meine eigene, reichliche Unsicherheit. Wenn ich solchen Menschen schnell ein bisschen gesunden Menschenverstand mit einem cleveren Spruch ins Gesicht klebe, kann ich zumindest daran meinen abgefallenen Glauben wieder aufhängen.
Darum sollen Leute dauernd dort abgeholt werden, wo sie stehen. Vor allem, wenn sie der Mehrheit, dort wo sie halt stehen, ein bisschen im Weg sind. Darum machen wir Außenseiter*innen gern zu „Teilnehmenden“. Wenn uns die schiere Zufälligkeit ihrer Schicksale schon sprachlos lässt, lass uns zumindest Fördern-und-Fordern spielen?
Und darum bereitet es komplizierten Typen wie mir ein heimliches Volksfest der Schadenfreude, zu bestaunen, wie der gesunde Menschenverstand gerade am leeren Klopapierregal zerschellt. Ich verstehe die Hilflosigkeit, mit der Sie Ihre 12 Packungen Hefe im Gefrierfach anbrüllen: „Ausgangssperre jetzt!“ Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zum Beispiel ist in seinem Auftreten so selbstgewiss; quer durch alle Parteien geht er als stabiler Bratan durch. Aber als er vor allen anderen Entscheider*innen die härtesten Ausgangsbeschränkungen durchsetzen wollte, dachte ich: Ah, der ist feige. Der fällt vom Glauben ab. Das kann ich sehr gut verstehen. Das kenne ich von mir. So wäre ich an seiner Stelle auch.
Seit wir Mitte März 2020 gebannt auf die Zahlenticker starrend und heftigen Menschenverstand speiend mit Vollgas in den zähen Pudding der pandemischen Realität getaucht sind, verstehen wir das System nicht mehr. Und sind uns erstaunlich einig, wovon wir sprechen, wenn wir „Systemrelevanz“ sagen. Zum Beispiel Witze über den Söder Markus möchte ich grade gar nicht machen, die sind nicht relevant. Ich möchte mich stattdessen 1,5 Meter von ihm wegsetzen und fragen: Und Markus, wie war Ihre Woche so?
Wo der gesunde Menschenverstand seine Gültigkeit verliert, beginnt die empathische Suche nach Gemeinsamkeit. Und es liegt eine ausgesprochene Ironie in der Luft, die vielleicht vor allem die Leidgeprüften riechen können, dass ausgerechnet eine gefährliche Krankheit so ein Gemeinschaftserlebnis schafft. Nothing changes if nothing changes? Niemand weiß, was zu tun ist. Wir reden drüber und finden Gewissheiten nur ineinander. Anything changes anything anyways.
Ich bin immer noch merkwürdig. Das erkenne ich daran, dass meine Lieblingsnudeln nie ausverkauft sind. Aber ich finde es gerade auf sonderbare Art weniger seltsam, ich selbst zu sein. Und wünsche mir und meinen Mitmenschen Verstand und Gesundheit.